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Fluch und Segen von Serious Games

“Serious Games für die Informations- und Wissensvermittlung”
Ann Christine Marr
2010, Verlag Dinges & Frick GmbH, Wiesbaden

Serious Games (SG) beginnen gerade erst sich als effektives Instrument für die Wissensvermittlung im Bildungsbereich durchzusetzen. Nur wenige Studien befassen sich mit dem Thema. Aussagen über Wirksamkeit im Vergleich mit traditionellen Lehrmitteln können noch nicht gemacht werden. Jedoch hatte jedes neue Medium am Anfang diese Hürde zu meistern: Heute stellt niemand mehr den Einsatz von Computern im Bildungsbereich in Frage und auch das Internet bietet viele neue Chancen und Herausforderungen der Wissens- und Informationsvermittlung. Empirische Befunde deuten auf eine Lernwirkung von digitalen Spielen hin und belegen positive Effekte auf die Ausbildung von Kompetenzen. In der Forschung wird jedoch über SG und deren Potential für den Schulunterricht kontrovers diskutiert. Wichtig ist vor allem eine geeignete Umsetzung im schulischen Umfeld zu finden. Festzustellen ist, dass Kinder und Jugendliche sich vermehrt im Alltag mit Video- und Computerspielen beschäftigen. Eine Untersuchung von Beck und Wade zeigt, dass junge Menschen, die sich als Spieler bezeichnen, kreativer, ambitionierter und optimistischer hinsichtlich ihrer Fähigkeiten sind und sie zeigten bessere kognitive Fähigkeiten. Die Untersuchung ergab auch, dass Kinder und Jugendliche, die mit Video- und Computerspielen aufgewachsen sind, Informationen auf neue Art und Weise verarbeiten. Gelerntes wird am nachhaltigsten gespeichert wenn der Lernende sich Wissen aktiv handelnd aneignet. Das elektronische Spiel simuliert reale Situationen, in denen der Lernende neu erlangtes Wissen gleich aktiv anwendet und Erfahrungen machen kann. Er wird befähigt solche Erfahrungen auf verschiedene Wirklichkeitsbereiche zu übertragen, Entscheidungen zu fällen und eigne Wege und Methoden zu entwickeln.

SG bieten einen flexiblen, auf den Lernenden ausgerichteten Lernzugang, können aber Lehrer nicht ersetzen. Sie sollten vielmehr als unterstützendes Instrument in der Bildung zum Einsatz kommen, zur Veranschaulichung und Verdeutlichung von Sachverhalten dienen und Teil eines abwechslungsreichen, modernen Ausbildungsprozesses werden.

Ohler und Nieding sind der Ansicht, dass SG nicht funktionieren können, weil Spieler keine Lernmotivation besitzen und daher die vermittelten Inhalte nicht lernen würden. Es besteht auch die Gefahr, dass sich zu sehr darauf fokussiert wird, den Lehrstoff zu vermitteln und das Spielerlebnis und die Motivation dadurch verloren gehen.

SG die als Lehrmittel eingesetzt werden, sollten darum folgende Kriterien erfüllen: authentisch, relevant und emotional ansprechendes Spieleszenario; Schüler zum Handeln animieren; Möglichkeiten für eigenständige Entscheidungen liefern; wiederholbar sein. Es müssen stetig neue Belohnungen locken: Zugang zu neuen Levels, bessere Ausrüstung, bessere Fähigkeiten, Highscore, Aufdecken von Geheimnissen. Im Spielverlauf sollten mit den Fähigkeiten des Spielers auch die Anforderungen steigen, gerade so weit, dass der Spieler noch weiterkommt (Herausforderung) um eine Frustration zu verhindern, so dass die erbrachte Leistung ein Glücksgefühl auslöst. Stichwort: Flow-Erlebnis.

Serious Games für die Informations- und Wissensvermittlung

Ann Christine Marr
2010, Verlag Dinges & Frick GmbH, Wiesbaden

Was ist ein Serious Game?

Ein SG ist ein digitales Instrument des Lernens – ein Computerspiel zur Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten. Spielen ist nicht mehr nur ein Zeitvertreib, es geht um die Vermittlung komplexer Zusammenhänge und die Förderung einer anderen Blickweise auf Dinge. SG vereinen Elemente des Spielens mit modernen Lernmethoden. Der Lernteil ist in den Spielablauf integriert und der Fokus liegt auf dem Erlangen neuer Kenntnisse und Kompetenzen. Es geht um Wissenserweiterung, Interaktion, Kommunikation, Austesten der eigenen Grenzen, Ausprobieren verschiedener Rollen.

Was ist der Unterschied zu klassischen Lernspielen?

Klassische Lernspiele sind Spiele mit Lerninhalten: Man hat eine Lern- und als Belohnung eine Spielephase, welche oftmals optisch und inhaltlich voneinander getrennt sind. SG versuchen aber beides zu verbinden, so dass tatsächlich spielerisch gelernt wird.

Was ist der Unterschied zum klassischen Lernprogramm (E-Learning)?

E-Learning ist computer- und internetgestütztes Lernen, die Vermittlung von Wissen erfolgt über eine Lernsoftware/Trainer. SG verbinden das Potential digitaler Unterhaltungsspiele mit dem Zweck ernsthafter Wissensvermittlung.

Der zu lernende Inhalt muss so in das Spiel integriert sein, dass sich der Nutzer die gesamte Zeit über wie ein Spieler fühlt und nicht wie ein Lernender. Spieleaspekte und Lernaspekte müssen ausgewogen sein…

Was ist der Vorteil an SG?

Wir nehmen komplizierte Informationen bereitwilliger auf, wenn sie in Spielform präsentiert werden, weil die aktive Teilnahme am Geschehen den Spieler reizt und beim Spielen das Belohnungszentrum im Hirn aktiviert wird.
Erfolgreiche Handlungen werden belohnt, da Erfolge direkte Auswirkungen auf die Spielwelt haben. Auch Fehlentscheidungen werden dem Spieler direkt bewusst gemacht und können korrigiert werden – bestimmte Abläufe werden so lange wiederholt, bis das gelernte verinnerlicht wurde.
Unmotivierte und „lernresistente“ Schüler können durch den Einsatz von Videospielen erreicht werden. SG haben das Potential unterschiedliche Lerntypen besser zu erreichen und zu unterstützen.
SG haben die Chance, den Lernenden in einer Art und Weise zu motivieren und zu faszinieren, die andere Lerninstrumente und Methoden nie erreichen würden. Die Hemmschwelle der Nutzung ist geringer, da Kinder und Jugendliche heutzutage mit Computerspielen aufwachsen.

Anja Hawlitschek: Spielend Lernen in der Schule? Ein Serious Game für den Geschichtsunterricht.

Anja Hawlitschek beschäftige sich mit der Nutzung von Computerspielen zum Lernen in der Schule. Sie arbeitet dazu seit 2008 an einer Dissertation an der Uni Erfurt und dem Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT um empirisch zu untersuchen, wie sich unterschiedliche Grade der Durchdringung von Unterhaltung und Lernen in einem Computerspiel auf die Nutzung und auf den Lernerfolg auswirken.

Dazu findet sich auf spielbar.de eine erste schriftliche Dokumentation ihrer Arbeit. Ziel ist es, ein Computerspiel zu entwickeln und im Schulalltag zu erproben, welches sich mit der Geschichte des Mauerbaus auseinandersetz. Interessant wäre es, sich mit Anja Hawlitschek in Verbindung zu setzen um zu erfahren, wie sich das Projekt seit 2008 entwickelt hat und welche Erfahrungen sie bisher machen konnte.

Hier der Kontakt:
anja.hawlitschek@idmt.fraunhofer.de
Fraunhofer IDMT, Abteilung Kindermedien, Hirschlachufer 7, 99084 Erfurt
Promotionskolleg “Communication and Digital Media”, Universität Erfurt

Hier die Arbeit: Spielend Lernen in der Schule?

Auszüge aus der Arbeit:

Computerspiele könnten in der historischen Bildung entdeckendes, problemorientiertes und handlungsorientiertes Lernen unterstützen und eine mediale Ergänzung zu zeitintensiven Exkursionen und Zeitzeugengesprächen sein. Ein Computerspiel bietet sich an, um gesellschaftliche und politische Verhältnisse vergangener Zeiten erfahrbar zu machen oder einen spezifischen historischen Fall kennenzulernen.

Lernen durch Erfahrung:
Erfahren bedeutet zunächst einmal das eigenständige Erleben und Durchleben von Ereignissen. Lernen wird als Folge des Erfahrungsprozesses verstanden. Erfahrungslernen kann sinnvollerweise nur an schon vorhandenem Vorwissen anknüpfen. Das Kennenlernen von Historie ist sehr selten ein Lernen durch Erfahrung. Hier können Computerspiele ansetzen. Ein Adventure beispielsweise bietet sich an, um Alltagsgeschichte zu erfahren, da es als Medienangebot durch seine Spielwelt und -regeln Explorationsverhalten und parasoziale Kontakte unterstützt.
Die Schüler werden im Computerspiel einen spezifischen historischen Fall kennenlernen. Dieser Fall steht außerhalb ihrer Lebenserfahrung und kann daher nicht problemlos mit früher gemachten Erfahrungen verknüpft werden. So wird z.B. in der schulischen historischen Bildung in Deutschland ein großer Schwerpunkt auf das Wissen über Vorbedingungen und konkrete Durchführung des Holocaust sowie der Leiden der Opfer gelegt, auch vor dem Hintergrund, dass dieses Fallwissen die Schüler gegenüber totalitärem Gedankengut sensibilisieren und immunisieren soll.
Das Spiel soll den Schülern die Möglichkeit eröffnen diese Aspekte kognitiv in Bezug zu ihrer eigenen Lebensumwelt und ihren eigenen Lebenserfahrungen zu setzen. Zum anderen soll das Serious Game jedoch auch verdeutlichen, dass Geschichte nicht eindeutig bewertbar ist, sondern aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Dementsprechend wurde darauf geachtet, die Schüler mit einem komplexen Problem zu konfrontieren, auch um pragmatische Fähigkeiten, wie das Wissen um die Notwendigkeit und die Fähigkeit der Kommunikation mit unterschiedlichen Individuen, welche eine Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und bewerten, zu stärken. Für die Konzeption des Serious Games bedeutet das, dass von einem Durchschnitt von Schülern ausgegangen werden muss, die sich zwar durchaus für das Themengebiet interessieren aber kaum über historisches Vorwissen verfügen, an das sie kognitiv anknüpfen können.

Expertenmeinungen über “Serious Games”

Aus dem Buch

Serious Games
für die Informations- und Wissensvermittlung

von Ann Christine Marr
2010, Verlag Dinges & Frick GmbH, Wiesbaden

 

Prof. Dr. Michael Wagner
Professor für Technologiegestütztes Lernen und Multimedia an der Donau Uni Krems

Ulrich Wechselberger
Mediendidaktiker an der Uni Koblenz und Fachmann für Digital Game-Based Learning

Arne Busse
Fachmann für Serious Games bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Betreuer von spielbar.de

Michael Graf
Redakteur bei GameStar


(Eine Kurzfassung der relevanten Aussagen)

1. Frage “Was lässt sich mit SG (Serious Games) vermitteln, was nicht?”

Wagner warnt vor der Überschätzung von SG – inhaltliches Wissen ließe sich schlechter vermitteln.

Wechselberger: Schulwissen lässt sich nur in begrenztem Umfang vermitteln, vernetzte Felder sind schwer vermittelbar. Auf affektiver Lernzielebene (Werte-Initialisierung) können Lernspiele wenig ausrichten.

Graf: Es lassen sich mit SG Grundwissen über ein bestimmtes Thema vermitteln, aber kein umfassendes Detailwissen.

Anonym: SG sollten nicht als alleiniges Lehrmittel eingesetzt werden, sondern als Ergänzung zu anderen Methoden.

 

2. Frage “Welche Vorteile und welche Nachteile kann der Einsatz von SG mit sich bringen?”

Wagner: Vorteile sind: Neue Lehrmethode, intrinsische Motivation, Anbindung an die mediale Lebensumwelt.
Nachteile sind: Kosten, hochgradig individualisiertes Lernen, schwer kalkulierbar, großer Aufwand.

Wechselberger: Vorteile sind: Unterhaltung, was für Motivation und Engagement sorgt; es verlängert sich dadurch die Dauer und Häufigkeit der Interkation mit dem Medium; freiwillige Basis sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche öfter und länger am Ball bleiben als wenn sie eine Geschichte über die Antike lesen.
Nachteile sind: Inhalt muss reduziert werden und kann darum kein authentisches Bild der Lerninhalte abbilden (oder es wird zu komplex).

Busse: Vorteile sind: Lernende, die nur intrinsisch zu motivieren sind, lassen sich durch den Spielespaß besser motivieren.

Graf: Vorteile sind: Veranschaulichen, unterhalten, belohnen – das erleichtert die Beschäftigung mit ansonsten trockenen Themen.
Nachteile sind: Sie funktionieren nicht als alleiniges Lehrmittel, da sie kein Detailwissen vermitteln, sondern im Wesentlichen “nur” Theorie und Hintergründe, jedoch oberflächlicher als Bücher (dafür sind Bücher weniger unterhaltsam und somit weniger einprägsam).

Anonym: Vorteile sind: Spieler sind intrinsisch motiviert und bleiben länger im Spiel, spielen macht Spaß, die Eintrittshürde ist klein, Dinge können ohne reale Konsequenzen ausprobiert werden.

 

3. Frage “Funktioniert der Transfer des im SG Gelernten in die reale Welt?”

Wagner: Der Transferprozess funktioniert in der Regel nicht automatisch, sondern muss geleitet werden.

Wechselberger: Der Transfer auf Wissens- und Werteebene ist eher selten, kann allerdings erleichtert werden, wenn virtuelle Spielwelt und Realität gegenseitige inhaltliche Anknüpfpunkte liefern (z.Bsp.: wenn Spiele in einer Unterrichtssituation eingebettet sind).

Busse: Ein Transfer passiert nicht automatisch, sinnvoll sind embedded-learning Konzepte

Anonym: Der Transfer funktioniert umso besser, je realistischer die Handlung im Spiel abgebildet ist.

 

4. Frage “Wie werden sich SG in Zukunft entwickeln?”

Wagner: Die Entwicklung von SG steht am Anfang. Das Wissen über ihre Funktionsweise ist noch sehr eingeschränkt. SG werden in Zukunft eine wichtige didaktische Methode darstellen.

Wechselberger: SG haben reichlich Entwicklungspotential, müssen nur finanziell auch gefördert werden um ein hohes Niveau zu erreichen.

Busse: Die Integration von SG in pädagogische Kontexte und didaktische Settings braucht noch Zeit und Arbeit.

Graf: SG haben vor allem ein Entwicklungspotential an Schulen, das Medium sollte dort stärker genutzt werden.

Anonym: Die Wirkung von (Lern-)Spielen ist wissenschaftlich noch nicht ausreichend untersucht worden.

 

5. Frage “Was sind die Faktoren die ein gutes SG ausmachen?”

Wechselberger: Gezielter und systematischer Gebrauch von lernfördernden Prinzipien, wie ständige Rückmeldung über Lernerfolge, Selbststeuerung des Geschehens/Interaktivität, Adaption an das Niveau der Spieler. Ein gutes SG sollte Erfolgskonzepte und -rezepte von erfolgreichen Computerspielen abschauen und ein spannendes Gameplay ermöglichen. Lerninhalte sollten nahtlos und natürlich mit der Spielstruktur (Story, Charaktäre, Gameplay, Simulation) vernetzt werden, damit die Spiele nicht gezwungen und künstlich wirken.

Busse: Ein gutes SG sollte Spielspaß, immersive Didaktik, Lebensweltorientierung, situiertes Lernen, Balance von Anforderung und Bewältigung haben.

Graf: SG müssen unterhalten – der Spieler muss für seinen Erfolg belohnt werden, sonst leidet der Lerneffekt. Ein gutes SG sollte intelligent veranschaulichen – seitenlange Texte lesen ist langweilig. Zusammenhänge müssen grafisch und greifbar dargestellt werden.

Ãœber Lernspiele

Zeit Artikel vom 23.04.2010 „Lernspiele basieren auf einem Denkfehler“

These von Michael Wagner (Spielexperte, Department für Bildwissenschaften Donau-Uni Krems):

Was man im Spiel lernt, lernt man auch nur für das Spiel, nicht für das Leben. Spielerisch erworbenes Wissen ist eine andere Art von Erkenntnisgewinn, als in der realen Welt, da sich ein Spieler in mehreren Identitäten bewegt, die abgespalten sind von der realen Identität. Beim Spielen würden daher keine konkreten Inhalte vermittelt, man lernt nur zu lernen.

Frage: Vermitteln Lernspiele inhaltliches Wissen besser als traditionelle Unterrichtsformen?

Frage: Geht es darum, besser zu lernen oder eher um den Sachverhalt spannender und damit interessanter aufzubereiten, so dass Jugendliche überhaupt erst einmal Lust darauf bekommen?

Pro: Spiele finden aus eigenem Antrieb statt, wo normales Lernen nicht stattfindet. Ist ein Lernen ohne Anstrengung. Spielen ist ein angeborener Trieb.

Ein Medienwissenschaftler vom MIT hat Computerspiele einmal als “conscience extending simulations” bezeichnet – und damit den Kern getroffen: Wie Literatur, Theater und Kunst erweitern sie unser Bewusstsein und bereichern unseren Geist. Lernen kann dabei ein positiver Nebeneffekt sein – nicht weniger und nicht mehr.

„Serious Games“
(Lernspiele; Spiele die Spaß machen, in erster Linie aber Wissen vermitteln)